Ich fliege nach Bologna, von dort fahre ich mit dem Zug weiter nach Fano, einer Kleinstadt in der Marche Region, die zur Provinz Pesaro und Urbino gehört.
Fano liegt an der Adria, das alte Stadtzentrum liegt etwas abseits der Küste, eingeschlossen von einer noch teilweise erhaltenen Stadtmauer. Direkt an der Küste reiht sich ein Hotel ans andere, der Strand ist schmal und nicht eben besonders weitläufig. In der zweiten Reihe stehen noch einige schöne alte Villen, mit großen, parkähnlichen Gärten, dazwischen jede Menge Appartmentanlagen.
Italiener aus der gehobenen Mittelklasse machen hier Urlaub bzw. verbringen hier den Winter. Die Altstadt ist schön, mit verwinkelten Gassen, unzähligen Restaurants und Boutiquen. Die Römer haben sie gebaut, es gibt noch den Arche de Augustus, einen kleinen Triumphbogen aus römischer Zeit und davor steht ein Denkmal des Kaisers.
Es ist beinahe völlig egal, wo man ißt, das Essen ist überall lecker. Einzig mit dem kühlen italienischen Design habe ich gelegentlich meine Schwierigkeiten. Viel Weiß, viele Fliesen, viel Neonlicht, nicht eben romantisch.
Ich war schon öfters hier, seit mehreren Jahren arbeite ich mit einem Schulungsunternehmen aus der Region zusammen. Allerdings hatte ich bisher kaum Gelegenheit etwas von der Gegend kennenzulernen. Wir haben intensiv gestritten, diskutiert und gearbeitet, so manch neue Idee entwickelt und realisiert und, ganz wunderbar, mittlerweile benutzen sie in diesem Unternehmen open source Software, wie open office, Joomla, Drupal und Moodle. Ergebnis meines 5jährigen viralen Marketings 😉
Diesmal besuchen wir gemeinsam lokale Unternehmer, zumeist kleine Familienbetriebe, beispielsweise in Fossombrone.
Fossombrone war mal das Zentrum der italienischen Textilproduktion. Armani, Boos, Ungaro u.a. haben hier fertigen lassen. Heute werden hier noch das Design und die Technologien für die Stoffveredelung und Schnitttechnik entwickelt, die Produktion findet in Rumänien, Albanien und Bulgarien statt.
Aber die Geschichte ist noch viel komplizierter. Als die italienischen Textilunternehmen in den achtziger Jahren anfingen, ihre Produktion in das billigere Ausland zu verlagern, haben Tausende ihren Arbeitsplatz verloren. Eine Tradition ging zu Ende, junge, gut ausgebildete Leute verließen die Region um anderswo Arbeit zu finden.
Dann kamen Ende der neunziger Jahre die Chinesen.
Die italiniesche Regierung hat mit der chinesischen Regierung ein Wirtschaftsabkommen geschlossen. Italienischen Firmen wurde darin der Zutritt zum chinesischen Markt versprochen, im Gegenzug durfte eine bestimmte Anzahl Chinesen in Italien leben und arbeiten. Die Chinesen haben sich das Wissen italienischer Spezialisten aus der Textilindustrie angeeignet und begonnen, die italienischen Textilfabriken wieder zu öffnen. Dort sind sehr wenige Italiener und sehr viele Chinesen beschäftigt. Dahinter steckt so etwas wie ein moderner Sklavenmarkt. In China ansässige “Unternehmen” vermitteln Praktika, Ausbildungs- und Arbeitsplätze nach Italien. Für viele Familien ist das oft der einzige Weg, ihren Kindern, zumeist ihren Töchtern, eine moderne Ausbildung und ein besseres Leben zu bieten. Weil sie kein Geld haben, die Kosten für den Aufenthalt zu zahlen, verkaufen sie ihre Töchter, aber nicht gegen Geld. Die Mädchen, im Alter zwischen 16-18 Jahren, müssen für mindestens ein Jahr unentgeltlich in den italienischen Fabriken arbeiten. Sie stehen unter permanenter Aufsicht, sind meist zu mehreren in einem Zimmer untergebracht, haben keine Papiere, können die Sprache nicht. Selbstredend haben sie keine 40 Stunden Woche, die Arbeitszeit liegt schätzungsweise doppelt so hoch. Es ist kaum möglich, den rechtlichen Status der Frauen und Mädchen zu kontrollieren. Es wird auf einen Namen eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt und die wird dann für mehrere Personen hintereinander genutzt. Geht jemand zurück nach China oder stirbt jemand, wird das nicht gemeldet, sondern der Platz wird neu vergeben.
Meine Kollegen erzählen mir, dass sie seit einigen Jahren Sprachkurse für chinesische Migranten anbieten und niemals kommt eine Person öfter als zwei-dreimal zum Kurs, die Teilnehmer wechseln ständig. Es gibt offizielle Fabriken und geheime. Die offiziellen werden natürlich von den lokalen Behörden kontrolliert, die geheimen naturgemäß nicht. Die Profite der Betreiber sind immens, die Strukturen mafiös, die Möglichkeiten einzugreifen aus verschiedenen Gründen relativ gering. Die italienische Polizei und die Steuerbehörden sind unterbesetzt und es gibt kaum jemanden, der freiwillig Aussagen zu Protokoll gibt.
Fossombrone hat aber seit einigen Jahren noch ein anderes Problem. Dort hat die italienische Regierung ein Hochsicherheitsgefängnis errichtet, in dem Mitglieder der Mafia aus de Süden des Landes einsitzen. Die Familien sind den Inhaftierten gefolgt und leben nun in dieser Stadt. Das bringt nicht nur das soziale Leben in der Stadt durcheinander, die Kriminalität steigt an, die Schulen bekommen immer mehr Probleme mit agressiven Schülern, denen kaum beizukommen ist, weil die Lehrer auf sublime Weise eingeschüchtert werden.
Als ich diese Geschichten höre, weiß ich überhaupt nicht, was ich sagen soll. Vor einigen Wochen habe ich den Film “Gomorrah” gesehen und ich lese gerade das Buch, auf dem dieser Film basiert. Meine italienischen Kollegen lachen und schütteln mit dem Kopf, als ich sie frage, ob sie den Film gesehen oder das Buch gelesen haben.
Die Antwort ist:
Das müssen wir nicht, wir wissen genau, wie die Mafia funktioniert. Einerseits ist es gut, dass jemand das aufgeschrieben hat, aber derjenige wird nicht überleben. Und was jetzt? Es gibt nicht wirklich einen Ausweg. Diese Leute sind überall, nicht mitmachen ist genauso gefährlich wie mitspielen, es ist ein Drahtseilakt und oft merken die Menschen gar nicht, dass sie mit der Mafia zu tun haben.
Wir fahren weiter nach St. Angelo de Vado, besuchen dort ein Familienunternehmen. Die Landschaft ist wunderschön, die Familie bewirtschaftet 40 Hektar Wald, schlägt Holz, produziert Holzkohle, verkauft beides und bewirtschaftet einen alten Hof. Die regionale Regierung hat vor einigen Jahren ein Programm zur Entwicklung des ländlichen Tourismus aufgelegt, welches die Revitalisierung solcher Höfe einschließt. Die Familie hat das alte Gebäude sehr stilecht restauriert und vermietet Zimmer und Appartements an Touristen. Stilecht restauriert meint, dass sie die alten, traditionellen Materialien verwendet haben und so alte Handwerkstechniken vorm Aussterben bewahren. Alte, ortsansässige Handwerker haben ihr Wissen weitergegeben und auf diese Weise haben sich auch die sozialen Strukturen im Dorf weiterentwickelt. Natürlich werden den Gästen traditionelle Gerichte vorgesetzt. Die Zutaten kommen aus der Umgebung und werden zumeist auf biologische Weise produziert. Nach diesem Essen bin ich bereit jeden Vertrag zu unterschreiben.
Anschließend besichtigen wir noch die Mosaiken aus dem 1. Jahrhundert n.C., die man vor ein paar Jahren bei der Erschließung eines Ackers für ein Wohnungsbauvorhaben entdeckt hat. Die Mosaiken waren nur mit einem Meter Erde bedeckt und sind ausgesprochen gut erhalten. Natürlich werden auf dem Feld nun keine Wohnungen mehr gebaut. Die Stadt hat ein Freilichtmuseum eingerichtet, der Eigentümer wurde entschädigt.
Ich lerne auch einen Trüffelbauern kennen, denn in dieser Region gibt es Trüffel. Es ist ein sehr hartes Geschäft, abhängig vom Wetter wachsen viele oder wenige Trüffel, in guter oder minderer Qualität. Erntezeit ist von Ende September bis Ende Dezember. Für Trüffel von durchschnittlicher Qualität bekommen sie, je nach Größe, zwischen 150 und 700 Euro per Kilo.
Außerordentliche Qualtitäten, oder gar weiße Trüffel erzielen Marktpreise von bis zu 4000 Euro pro Kilo.
Das Land ist aufgeteilt zwischen zwei alten Familien, die sich gegenseitig respektieren und auf diese Weise gut zurecht kommen. Die Trüffel werden mit Hunden aufgespürt. Die Ausbildung eines Hundes braucht mehrere Jahre und ist sehr aufwendig. Entsprechend teuer sind diese Hunde. Hat man sich eine gute Reputation als Züchter aufgebaut, dann zahlen die Trüffelsucher um die 800 Euro pro Hund.
Auch hier versuchen Chinesen auf den Markt zu drängen. Es werden tonnenweise Trüffel aus chinesischer Produktion und in minderer Qualität eingeschmuggelt und versucht, auf den Märkten zu verkaufen. Es gibt genügend ahnungslose Käufer, die sich freuen, ein paar Trüffel zum Schnäppchenpreis zu kaufen.
Und dann sind da noch die Hunde. Sie werden vergiftet. Alle glauben, dass chinesische Banden dahinter stecken, aber das zu beweisen ist nicht immer einfach. Ich treffe einen anderen Trüffelbauern, dessen vier Hunde mitten in der Saison vergiftet worden sind. Damit haben er und seine Söhne und somit die gesamte Familie seit drei Monaten kein Einkommen mehr. Die einheimischen Familien helfen sich zwar gegenseitig, aber die Situation ist sehr schwierig.
In der Marche Region sind auch die Firmen ansässig, die die Maschinen bauen, mit denen hier wunderschönen italienischen Designerküchen hergestellt werden. Ich hab natürlich auf Anhieb meine Traumküche gefunden, allerdings gar nicht erst nach dem Preis gefragt.
Momentan haben diese kleinen Firmen ziemliche Probleme, die Aufträge sind in den letzten beiden Monaten um beinahe 60% zurückgegangen. Sie arbeiten oft mit größeren Unternehmen zusammen und deren Aufträge sind nahezu ausgeblieben bzw. gelieferte Waren wurden nicht bezahlt. Die Banken haben den größeren Unternehmen die Kredite gestrichen, diese sind dadurch nahezu handlungsunfähig und die Neurordnung der Kreditvereinbarungen braucht Zeit. Eine solche Situation kann ein Familienbetrieb mit 30-40 Angestellten nicht viel länger als 2, 3 Monate überbrücken, dann muß er seine Arbeit einstellen. Um eine größflächige Schließung von Unternehmen zu vermeiden, haben sich Unternehmer, Gewerkschaften und Politik darauf geeinigt, die Arbeit in der ersten Woche eines Monats ruhen zu lassen und den restlichen Monat verkürzt zu arbeiten. Das Land zahlt den Arbeitern den Lohnausfall. Diese Vereinbarung ist begrenzt auf 6 Monate und alle hoffen, dass dann die größten Probleme überwunden sind.
Natürlich wird auch auf dem Karneval des Unternehmerverbandes, zu dem wir eingeladen sind, über die Lage der Wirtschaft in der Region diskutiert. Aber trotz dieser gravierenden Probleme sind viele Unternehmer optimistisch, dass sie sich aus dieser Situation befreien können.
Es gibt noch viel zu tun, nur wenige Unternehmen nutzen das Internet als Marketinginstrument, noch weniger können sich vorstellen, dass man damit auch sein Geschäft ankurbeln kann.
Ich war ganz sicher nicht zum letzten Mal in dieser Region …