Ich fahre mit dem Zug von Leipzig nach Halle, so, wie ich das vor ungefähr dreißig Jahren beinahe täglich 4 Jahre lang getan habe. Bei diesen Zahlen wird mir ganz schwindelig, es ist so lange her, seit ich in Halle an der Martin Luther Universität studiert habe. Aber das ist eine andere Geschichte. Die S-Bahn braucht heutzutage knappe 30 Minuten, früher gab es keine S-Bahnverbindung zwischen beiden Städten und die Reise hat mit dem normalen Zug doppelt so lange gedauert.
Ich schau aus dem Fenster. Alles sieht so aufgeräumt und sauber und perfekt aus, selbst die Graffities auf den Schallschutzwänden und alten Mauern entlang der Gleise passen in diese aufgeräumte Welt. Dazu taucht die Sonne alles in freundliches Licht. Die Bahn kommt in Halle Hauptbahnhof an, ich steige aus, folge der Ausschilderung Richtung Stadtzentrum um den Bahnhof zu verlassen und bin verloren.
Nichts erkenne ich wieder, ich bin mir sicher, ich war noch nie an diesem Ort. Und es ist niemand da, den ich fragen kann. Es ist Sonntagmorgen, zehn nach neun und Halle schläft. Ich finde eine Straßenbahnhaltestelle und auf dem Weg dorthin einen älteren Mann, der auf dem Bahnhof wohnt. Er erklärt mir, welche Straßenbahn ich nehmen kann, um zum Marktplatz zu kommen. Es ist sehr kalt, ich kauf ihm einen Kaffee und bedanke mich für seine Hilfe.
Die Straßenbahn bringt mich zum Marktplatz, den ich wiedererkenne, auch wenn er komplett mit Buden zugestellt ist. Es ist Salzfest in Halle, allerdings deuten die Namen der Buden überhaupt nicht darauf hin. Es scheint sich hier eher um ein Bratwurstdönerbierfest zu handeln.
Ich laufe durch schmale Gassen am Dom vorbei. Eigentlich ist das ja kein richtiger Dom, sondern eine Kirche. Sie wurde mal als Dom geplant, hat aber nie die Weihe als Dom erhalten, Halle war auch niemals Bischofssitz, der befand sich in Magdeburg. Der Dom ist perfekt restauriert, es herrscht reges Treiben, denn 10.00 Uhr beginnt hier die Sonntagsmesse. Ich schlendere weitere an sehr alten Fachwerkhäusern vorbei, einige liebevoll restauriert, manche sind in einem erbärmlichen Zustand. Ich erinnere mich ganz dunkel an ein riesiges, runtergekommenes Ruinenviertel, was zum überwiegenden Teil leer stand und wo ich zu Studentenzeiten mal auf der Suche nach verborgenen Schätzen aus vergangenen Zeiten umhergestreunt bin. Hier haben früher die Salzsieder, die ärmsten der Armen gelebt.Glücklicherweise hat ein Teil dieses Viertels die Wendezeit noch erlebt und wurde nicht vollständig durch Plattenbauten ersetzt.
Ich hab eine Verabredung mit einem Kunden. Ja, wir arbeiten auch sonntags, weil unsere Terminpläne zu voll sind und wir unser Gespräch nicht in der normalen Arbeitszeit unterbringen konnten. Wir treffen uns zum Frühstück in einem Restaurant und arbeiten drei Stunden sehr konzentriert. Ich erzähle ihm, dass ich mal hier in dieser Stadt studiert habe und er bietet mir an, mich auf meinem Weg zum Bahnhof zu begleiten. Wir laufen durch eine total runtergekommene Gasse, die wahrscheinlich nicht restauriert wird, weil sie beinahe monatlich als Filmkulisse dient, laufen über den Marktplatz, wo inzwischen all die Buden geöffnet sind und ein paar Leute verloren herumstehen.
Wir gehen am alten Hauptgebäude der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät vorbei – das erkenne ich wieder! Von dort zum Bahnhof, diesen Weg bin ich so oft gegangen, dass ich meine, mich erinnern zu müssen. Aber es ist einfach zu lange her und ich habe nicht wirklich freundliche Erinnerungen an meine Studienzeit. Ich glaube, das Gehirn blendet einfach negative Dinge im Detail aus und läßt nur schöne Erinnerungen zu. Jedenfalls mein Gehirn macht das.
Einzelne Gebäude, erkenne ich wieder, die alte Post, das Gericht und die gegenüberliegenden Gründerzeitvillen. In dieser Straße fanden während der Wendezeit Demonstrationen statt und ein paar in die Kieswege eingelassene Messingplatten erinnern daran. Man muß schon genau hinschauen, um sie zu entdecken. Hier wurde auch der Dokumentarfilm über Felix von Luckner gedreht. Als das Gerichtsgebäude mit Nazifahnen geschmückt wurde, haben besorgte Anwohner die Polizei gerufen. Man erzählt sich aber auch, dass nach Abschluß der Dreharbeiten eine Fahne mehr eingesammelt wurde als ausgeteilt.
Wir laufen vorbei an der riesigen Betonfahne. Die Farbbeutel, mit denen die Fahne in den Wendetagen beworfen wurde, haben die Stadtverantwortlichen dazu inspiriert, die ehemals graue Fahne in Schattierungen von rot und orange leuchten zu lassen.
Inzwischen sind wir in der oberen Ende des Boulevards angelangt. Er wird gesäumt von prunkvollen, zum Teil sehr schön restaurierten Häusern aus der Gründer-und Jugendstilzeit. Im unteren Bereich befinden sich Geschäfte oder Restaurants, in den oberen Etagen sind Wohnungen. Auch hier ist viel Plattenbau dazwischen und viele Gebäude, Läden und Wohnungen stehen leer. Es wirkt alles ein wenig trostlos und aufgegeben. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass kaum Menschen zu sehen sind. Naja, es ist früher Sonntagnachmittag, die sind bestimmt alle zu Hause beim Sonntagsfamilienessen.
Schließlich kommen wir am Bahnhof an. Der gesamte Bahnhofsvorplatz wurde komplett umgebaut. Früher glitt man nach der Ankunft in Halle in einen langen dunklen Schlauch, den man durchqueren mußte, um zu den Straßenbahnen oder in das Stadtzentrum zu gelangen. Heute wird man willkommen geheißen auf einem offenen und begrünten großen Platz. Und dann bin ich tatsächlcih nochmal sprachlos. Wir erreichen das Hauptgebäude des Bahnhofs, ein wunderschöner alter Gründerzeitbau mit einer großen Glaskuppel. Davon war in beinahe 40 Jahre nichts zu sehen. Das gesamte Gebäude war komplett mit Beton verpackt! Mein Begleiter erzählt mir, dass, als man mit den Umbauarbeiten begonnen hatte, sogar noch das große SS-Emblem fand, welches die alte Bahnhofsuhr verdeckte. Unter der Kuppel, ist wie auf allen größeren Bahnhöfen Deutschlands, ein Gewusel von Imbissständen, Blumen und Zeitschriftenläden. Die Fahrkarten zieht man scih am Automaten, wer die nicht bedienen kann, muß sich seine Fahrkarte an einem Schalter kaufen und für den Service 5 Euro mehr bezahlen.
Ich kehre zurück von meiner Zeitreise nach Leipzig.